Paris 1971
Paris 1971

 

 

 

jardin du luxembourg, paris, 1971 - 2015

 

 

alle blicken in die gleiche richtung, in die gleissende, immer noch wärmende herbstsonne.

die stühle sind ausgerichtet, stehen parallel, grafisch streng, mein stuhl auch.

aus der reihe tanzen würde keinen sinn machen.

ich nehme meist den Orientexpress oder jetzt den TGV.

ankomme Paris, Gare de L´Est.

 

 

irgendwie ist mir nach résumé nach all den Jahren.

 

in den bistrots, brasserien und restaurants wird auf meine französisch vorgetragenen bestellungen manchmal auf englisch geantwortet: „... french fries ...“!

ich dachte, mein französisch ist zumindest bei alltäglichen stereotypen wiederholungen ganz annehmbar, wo ich doch seit mittlerweile 39 jahren „... un demi et un sandwich, s`il vous plaît ...“ virtuos phrasiere.

so dachte ich und wurde freundlich aber bestimmt eines besseren belehrt.

 

wie hat eigentlich henry miller französisch parliert, bei seinen paris-aufenthalten in den 20er und 30er jahren des letzten jahrhunderts, in den künstlerkreisen, in den „stillen tagen in clichy“ ?

antworteten ihm die „garcons“ auf englisch, dann wäre dies für einen amerikaner mehr als verständlich gewesen. ich allerdings hätte mir, wenn schon, eine deutsche antwort erwartet, wenn es denn schon keine französische sein sollte.

diese „stillen tage in clichy“ waren interessanterweise meine erste begegnung mit henry miller, vor allem aber mit paris.

ich wollte sie treffen, die helden des romans, joey den autor und carl den rastlosen frauenversteher und ihre abenteuerliche armut teilen. im jahre 1971 suchte ich mit dem roman in der hand vor ort ihre spuren. Bis heute ist es mir nicht gelungen sie wirklich zu finden.

 

wie hat eigentlich henry miller französisch parliert? diese frage habe ich mir beim abendmahl im „le zeyer“ gestellt.

dort saß miller mit seinem freund alfred pèrles des öfteren wohl bei einer eisgekühlten silberplatte mit frischen austern aus den meeresgestaden der bretagne, um seinen lenden die nötige auffrischung für ausschweifende sexualität zu verleihen.

 

joey und carl konnten von solch einem mahl damals wohl nur träumen.

und doch legten sie die pariserinnen auch mit leerem magen flach und suchten anschließend im abfall nach essbarem, nach hartem bröseligen schimmligen baguette vom vortag, um nach der lust auch ihren profanen hunger mehr recht als schlecht zu stillen. beim essen waren sie weder wählerisch noch verschwenderisch.

 

über dem brunnen mit den kleinen bunt besegelten spielzeugschiffen im luxembourg ragt das wahrzeichen meines viertels, des 14. arrondissements in den stahlblauen himmel.

la tour montparnasse, zum greifen nah.

ich würde auch ohne plan immer wieder nach hause finden! wenigstens etwas.

 

nach spätestens 1-2 wochen wird auch hier jeder tag zum alltag, ohne die gewohnte arbeit zwar, ohne die vermaledeite pflicht.

fast ist so etwas wie ein „zuhausegefühl“ spürbar.

 

anders als zu hause aber: schlafen bis acht, café und zeitung, körperpflege, mittags aus dem haus. klingt nach bohémien oder revolutionärem student.

unweit von dem ort, an dem mir von vorne gerade die brust mit kostenfreier sonnenenergie gewärmt wird und im selben moment das sitzfleisch auf der sonnen abgewandten seite und der metallenen sitzfläche auskühlt, wie die auf eis servierten austern millers im legendären „le zeyer“ an der rue d´alesia, unweit davon flogen vor 3 jahren die pflastersteine, kurz vor meinem ersten schüchternen auftritt in paris.

 

es kämpften die französischen studenten auf den strassen- und plätzen – diese sprachweise erinnert einen an deutsche politiker-wahlkampf-sprache – um das neue.

das war zumindest im „alten europa“ der, von den unverbesserlichen konservativen, reaktionären, uneinsichtigen nicht teilnehmenden zeitgenossen oft negierte neuanfang in eine neue, andere „überhaupterstmalfreiheit“.

einer von ihnen war daniel cohn-bendit, ihn las ich quasi als vorbereitung auf die „grande nation“ und ihre metropole 1971 zum ersten mal.

ich hatte das gefühl, dabei gewesen zu sein und war stolz darauf.

 

auch wenn es die verleumder und ignoranten niemals zugeben werden, hätte dies nicht so stattgefunden, dann wären die röcke nie so kurz, die stiefel nicht so hoch und die dekolletes nicht so tief gezogen.

und das erfreut unverdienter maßen auch die saubermänner der sogenannten bürgerlichen mitte mit ihrer schon mathematisch unsinnigen wachstumsphobie und lässt ihr männliches körperzentrum unmoralisch in erregte höhen steigen.

 

eigentlich ging es in den zeiten des studentischen aufbruchs und widerstandes aber um etwas völlig anderes, nämlich um die aufarbeitung der damals jüngsten vergangenheit, um die überwindung des muffs der „tausend“ jahre mit ihren unseligen, unmenschlichen und tödlichen wirren und auch um die befreiung der frauen.

 

frankreich hatte vichy, aber gott sei dank auch die résistance.

 

die umstrittenen theorien der existenzialisten sartre und camus und der vielzahl der von ihnen beeinflussten, u.a. benn, bukowski, frisch, ionesco, vian u.v.a. verbreiteten sich im schwarzgekleideten paris, in jazzkellern, cafes und universitäten.

man spürt das schwarz noch immer.

 

sartre, seine gefährtin de beauvoir und ionesco liegen auf dem cimetière de montparnasse im 14. arrondissement im ewigen schlaf .

meine wege führen mich oft über diesen ort, warum auch immer ?!

 

 

jetzt weiterrücken in die herbstsonne, den halbwegs temperierten stuhl verlassen. meinen nimmt ein anderer.

 

von dem in der heimat gefassten ziel, in dieser stadt zu lernen an nichts zu denken, bin ich lichtjahre entfernt. das war aber auch zu befürchten.

ob es nochmal einen versuch geben wird, den kopf und die seele vom vermeintlichem müll zu befreien, um in eben diesem müll sogleich nach hartem, bröseligen, schimmligen baguette zu suchen, wie joey und carl es taten, bleibt abzuwarten.

 

paris hat etwas „wienerisches“, schwarz gekleidete melancholie und lebendige endzeitstimmung.

 

 

à bientôt paris,

peut-être